Kostbare Gene – warum ist die Genvielfalt so wichtig für unsere Hunden

KOSTBARE GENE — warum ist die Genvielfalt so wichtig für unsere Hunde

VON EVELYN KIRSCH

In den letzten Jahren wird der Ruf nach einem breiten Genpool in der Hundezucht immer lauter. Genetiker warnen immer wieder vor dem gefährlichen Weg der geschlossenen Hundezucht. Aber warum? Wir möchten doch nur das Beste züchten. Es kann doch nicht verkehrt sein, wenn nur die besten Rassevertreter in der Zucht verwendet werden. Wo ist das Problem?

Die Hundezucht war über die letzten hundert Jahre hauptsächlich danach ausgerichtet, die Rassen weiter und weiter zu verbessern oder wenigstens versuchte man den hohen Stand, den man erreicht hat zu erhalten. Das tat man, indem man sorgfältig Ahnentafeln studierte; es durften nur die besten Exemplare darin zu finden sein. Gesundheit, Wesen, sportliche Fähigkeiten und die vorzüglichen Standardeigenschaften, das wollen wir. Wir achten darauf, dass nur als besonders vorzüglich bekannte Vertreter unserer Rasse in der Ahnentafel vorhanden sind. Und Blutanschluss muss auch unbedingt zu finden sein. Genau davor warnen die Genetiker. Warum eigentlich – was ist denn daran falsch?

Das was wir mit dieser Art der Selektion suchen, ist nur ein ganz geringer Teil, der von den Genen bestimmt wird. Die Gene haben noch sehr viele andere Aufgaben. Sie sind zum Beispiel auch zuständig für die Fähigkeit des Körpers mit Temperaturschwankungen umzugehen; sie sind zuständig, das Immunsystem stark zu halten oder auch für die Fähigkeit eines Hundes mit Stress umzugehen, etc, etc. Diese Fähigkeiten können verloren gehen und sind auch bei vielen Rassen “schon sehr stark reduziert. Unsere Art Hunde zu züchten führt zu den zunehmenden Problemen wie Allergien, Krebs und anderen sogenannten Zivilisationskrankheiten. Aber warum ist das so?

 


Reinerbigkeit (Homozygothie) oder Mischerbigkeit (Heterozythogie)

Seit über hundert Jahren der Auslesezucht haben sich unsere Rassen stark vereinheitlicht. Die meisten Rassen sind eindeutig von anderen Rassen zu unterscheiden. Die Gewinner auf Ausstellungen sehen sich sehr ähnlich und Leistungshunde sind die schnellsten und geschicktesten geworden. Zu diesen Erfolgen sind wir gekommen, weil über diese vielen Jahre der Genpool unserer Hunde immer reinerbiger geworden ist. Sogenannte Rassefehler sind durch die Auslese soweit zurückgedrängt worden, dass sie in den meisten Fällen gar nicht mehr im Genpool einer Rasse vorkommen. Wir haben sie verloren. „Das ist ja auch gut so”, heit es. Aber wer weil, was wir noch alles verloren haben, was wir gar nicht direkt messen oder so schnell erkennen können. Eine empfehlenswerte Lektüre zu dieser Thematik ist das Buch „Rassehundezucht Genetik für Züchter und Halter“ von Irene Sommerfeld-Stur. Sie erklärt ausführlich den heutigen Stand der Wissenschaft, wie Genetik funktioniert und welche Möglichkeiten wir noch haben, den vorhandenen Genpool zu erhalten und nicht noch mehr der nützlichen Gene zu verlieren.

Es ist allgemein bekannt, dass es im Genpool eines Individuums für jede Eigenschaft dominante und rezessive Allele gibt. Jede Eigenschaft (außer den Geschlechtszellen) ist im Genpool doppelt vorhanden. Dieses Prinzip sei in einem Beispiel einmal ganz vereinfacht erklärt: Stromung. Gestromt ist dominant und ungestromt rezessiv. Weil gestromt dominant ist, sehen wir nicht von außen, ob das Individuum reinerbig oder mischerbig gestromt ist. Wenn wir daher einen gestromten Rüden mit einer ungestromten Hündin verpaaren, werden die direkten Nachkommen ebenfalls gestromt sein, sofern der Rüde reinerbig (homozygot) das Stromungsgen hat, aber sie tragen auch jeweils das rezessive Gen für ungestromt von der Mutter. Doch wenn der Rüde sowohl ein dominantes Gen für Stromung als auch ein rezessives Gen für ungestromt trägt (heterozygot), dann werden mit der ungestromten Partnerin alle direkten Nachkommen rechnerisch zu 50% gestromt sein und zu 50% ungestromt. Bei diesen 50% ungestromten Nachkommen ist das Stromungsgen verloren. Wir könnten also, wenn wir möchten, das Gen für Stromung ganz schnell innerhalb von einer Generation aus unserer Rassepopulation unwiederbringlich verschwinden lassen, wenn wir alle gestromten Hunde aus der Zucht ausschließen. (Anders als bei dominanten Genen ist es bei rezessiven. Hier könnte man ein Gen — wenn überhaupt — nur dann aus dem Genpool heraus züchten, wenn es durch einen Gentest identifiziert werden kann.)


Verlust der Genvielfalt — eine Gefahr

Tatsache ist, wir können Eigenschaften unwiederbringlich verlieren. Denken wir an die Problematik beim Mops. Durch die sehr strenge Auslese hat er die Nase verloren — sie ist aus dem Genpool der Rasse unwiederbringlich verschwunden. Nur durch das einkreuzen einer fremden Rasse könnte man sie wieder einzüchten. Das war von den Züchtern sicher nicht gewollt.

Nun, wir Windhundfreunde sind weit davon entfernt Qualzucht zu betreiben. Aber auch unsere Hunde haben etwas zu verlieren. Ohne es zu wollen geht durch unsere Zuchtauswahl die Vielfalt der Gene verloren und das kann sogar sehr gefährlich werden. Ist das wahr? Warum können wir denn nicht auf diese ganzen Gene verzichten, die man früher lapidar als „Füllstoff“ Gene bezeichnet hat.

Die Wissenschaft ist in der Erforschung des Genoms schon sehr weit fortgeschritten. Es wird schon sehr viel verstanden. Im Körper eines Lebewesens gehen sehr komplizierte Funktionen und Abläufe vor sich, an denen ganz verschiedene Gene beteiligt sind. Gene zeigen ganz unterschiedliche Zusammensetzungen, Funktionen und Eigenschaften. Dass ein Körper funktioniert, daran sind schier unüberschaubare biochemische Wirkungen und Wechselwirkungen beteiligt, die von Genen und der Umwelt gesteuert werden. Der Hund besteht aus Fell, Augen, Ohren, Zähne, Haut, Muskeln, Sehnen, Nerven, Blutgefäßen und nicht zu vergessen die inneren Organe. Alle diese Teile sind aus unterschiedlichsten Geweben und werden durch die verschiedensten Kräfte dazu gebracht zusammen zu arbeiten. Letztendlich sind es die Zellen, die die Grundlagen bilden, die wieder aus kleinsten Bausteinen wie Zellplasma, Zellkern, Mitochondrien etc, etc. zusammen gesetzt sind. Der Bausatz aller Einzelteile ist in der DNA zu finden, die im Zellkern verpackt ist. Die DNA erinnert von der Struktur her an eine Strickleiter, sie besteht aus Zucker, Phosphorsäure und verschiedenen Basen. Es ist sehr kompliziert zu verstehen, wie all diese Mechanismen zusammenarbeiten. Aber wir wissen dass die Funktionen des Körpers unter anderem durch Proteine gesteuert werden. Da gibt es Enzyme, Hormone, Immunglobuline, Membranrezeptoren und Neurotransmitter. Die verschiedenen Proteine sind in ständiger Zusammenarbeit und Wechselwirkung miteinander.

Gene sind Informationseinheiten, die die Aufbauanweisung für Proteine enthalten. Sie liegen paarweise an einem Ort vor, dem sogenannten Genlocus. Die zwei Gene an einem Locus nennt man Allele, je ein Allel ist vom Vater eines von der Mutter. Beide Allele können identisch (homozygot oder reinerbig) sein oder unterschiedlich (heterozygot oder mischerbig). Unterschiedliche Allele eines Genortes codieren Proteine mit mehr oder weniger unterschiedlichem Aufbau, bzw. unterschiedlicher Funktion. Wenn wir an das Beispiel der Stromung denken, ist es für die Gesundheit und Vitalität offensichtlich nicht besonders wichtig, ob ein Hund gestromt oder ungestromt ist. Es gibt aber auch viele Gene mit wichtigeren Funktionen, die zB. die Gesundheit betreffen. Es gibt z. B. Defektgene, wo das krankmachende Allel natürlich unerwünscht ist. Es gibt aber auch Gene wo beide Allele, wenn sie unterschiedlich sind auch erwünschte unterschiedliche Eigenschaften haben.

Die meisten Erbfehler haben nur eine Chance, den Hund zu schaden, wenn sie homozygot vorhanden sind, also eine Genvielfalt hilft dabei zu verhindern, dass sich diese Defektmutationen treffen und unsere Hunde krank machen.

 

 

Nützliche Gene — wie wirken sie

Als verständliches Beispiel nennt Frau Sommerfeld-Stur in ihrem oben erwähnten Buch: „Auf der individuellen Ebene hat ein Hund, der verschiedene Varianten eines Gens trägt, den Vorteil, dass er für verschiedene Umweltbedingungen immer zumindest eine passende Variante des Gens trägt. Nehmen wir ein hypothetisches Beispiel, Ein Enzym, das für die Bereitstellung von Energie für die Arbeit der Muskulatur verantwortlich ist, kommt in zwei Varianten vor, die sich durch ihre Temperaturempfindlichkeit unterscheiden. Variante A funktioniert am besten in einem Körpertemperaturbereich zwischen 36,5° und 38,2°, Variante B hat ihr Umweltoptimum in einem Temperaturbereich zwischen 37,4° und 39°, Beide Enzymvarianten verlieren an Aktivität, wenn die Körpertemperatur über bzw. unter ihren individuellen optimalen Wirkungsbereich steigt bzw. sinkt.

Bei einem Hund, der homozygot ist für die Variante A, wird das Enzym und damit die Energieversorgung der Muskulatur so lange funktionieren, wie seine Körpertemperatur nicht über 38,2° steigt. Bei leichtem Fieber wird dieser Hund aber eine mehr oder weniger ausgeprägte Schwäche der Muskulatur zeigen. Ein Hund, der homozygot ist für die Variante B, wird hingegen bei einer Unterkühlung, die seine Körpertemperatur auf unter 37,4° absenkt, mit Muskelschwäche reagieren. Die besten Karten hat ein heterozygoter Hund, der beide Varianten des Enzyms hat“.

Ein weiteres Beispiel, das zeigt wie wertvoll Heterozygothie ist, beschreibt sie wie folgt: „Aber auch einfache Dominanzeffekte erklären die Überlegenheit der höheren Heterozygotie. Rezessive Gene codieren in den meisten Fällen unwirksame oder weniger wirksame Proteine. Tiere mit einem höheren Anteil an heterozygoten Genorten haben somit auch an mehr Genorten zumindest eine Kopie des dominanten Gens, das die funktionierende Variante des Genproduktes codiert, während Tiere mit einem höheren Anteil an homozygoten Genorten auch einen höheren Anteil an rezessiven Genen, die Proteine mit eingeschränkter oder fehlender Funktionsfähigkeit codieren, in doppelter Dosis tragen“.

Sehr wichtige Gene, die vor allem für den Bereich der Immunabwehr zuständig sind, sind die Gene des MHC (Major Histocompatibility Complex) sie werden als DLA-Gene bezeichnet. (DLA steht für „Dog Leukocyte Antigen“). Diese Gene gibt es in drei Klassen und sind sehr gut untersucht. Es sind diverse Gene beteiligt bei denen teilweise sehr polymorphe Gene mit vielen Allelen beschrieben werden. Allele dieser drei Genorte werden oft in bestimmten Allelkombinationen, die man auch als Haplotypen bezeichnet vererbt. Mehr als 144 solcher Haplotypen sind in mehr als 80 Rassen gefunden worden.


Wissenschaftliche Erkenntnisse

Man hat nun festgestellt, dass in einzelnen Rassen diese Vielfalt bereits stark reduziert ist. Frau Sommerfeld-Stur beschreibt, dass zum Beispel „beim Boxer und beim Golden Retriever … im DLA l-Gen von den insgesamt beim Hund bekannten 51 Allelen nur mehr 10 Allele zu finden waren”…. „Von den insgesamt 144 Haplotypen sind bei einem Großteil der untersuchten Rassehunde nur mehr 2 bis maximal 4 verschiedene zu finden“. Durch den immensen Verlust dieser sogenannten Haplotypen wird in den betroffen Rassen das Risiko erhöht, die heute bekannten Zivilisationskrankheiten wie Diabetes oder die verschiedenen Autoimmunerkrankungen zu bekommen.

Der Verlust dieser Allele passiert durch die Reinerbigkeit, durch die Homozygothie an den betreffenden Genorten, wo die verschiedenen Allele verschiedene Aufgaben haben. Das ist der Preis den wir zahlen wenn wir die erwünschten Standard- und Leistungsanforderungen durch Homozygothie fixieren.

Eine bekannte Gefahr, über die wir schon oft in der Rassehundezucht diskutiert haben ist das Phänomen des „Popular Sire“. Besonders erfolgreiche Deckrüden, die auch schon erfolgreiche Nachkommen haben, werden immens häufig in der Zucht eingesetzt. Wir wissen schon, dass das dazu führen kann, dass sich ein Defektgen, das der entsprechende Rüde eventuell trägt dadurch explosionsartig in einer Rasse ausbreiten kann. Es gibt aber auch eine weitere Gefahr. Wenn wir immer nur die wenigen Supergewinner verwenden, bleiben andere Hunde außen vor. Aber gerade diese, könnten wertvolle Gene haben, die kein anderer Zuchthund dieser Rasse besitzt. Dadurch könnte eine wertvolle Eigenschaft für immer verloren gehen.

 

 

Nur die besten in die Zucht?

Das zeigt uns doch, dass wir umdenken müssen. Für Genetiker ist unsere Strategie „nur die besten in die Zucht” ein fataler Fehler. Wir sollten lieber nach der Strategie „nur die schlechtesten aus der Zucht’ arbeiten, um unseren so kostbaren Genpool zu erhalten.

Züchter sollten nicht nur in ihren eigenen Zuchtlinien denken, sie sollten in der Population denken. Über die vielen Jahre der Auslesezucht haben wir schon sehr viel Genvielfalt verloren. Wir sollten jetzt alles daran setzen, das Vorhandene möglichst vollständig zu erhalten. (Und da haben wir bei einigen Windhundrassen noch einen großen Vorteil. Wir können/konnten immer noch lange auf Exemplare aus dem Ursprungsland mit einem ganz unterschiedlichen Genpool zurückgreifen).

Durch die über Generationen fortgeführte In- und Linienzucht werden unsere Hunde durch eine Inzuchtdepression bedroht. Die Inzuchtdepression, die zu immer weniger Fitness, Vitalität und Fruchtbarkeit führt, wird durch die immer mehr werdenden homozygoten Defektgene vorangetrieben. Defektgene sind zum größten Teil rezessiv. Man kann sie, solange sie in mischerbiger Form vorliegen nicht erkennen. Sie können also über längere Zeit in unserer Rasse vorhanden sein, ohne bemerkt zu werden. Durch den Anstieg der Reinerbigkeit aber, werden sie erscheinen. Wir stehen dann vor einem eigentlich lange vorhandenen Problem, dass dann nur sehr schwer in den Griff zu bekommen ist.

 

 

Ein gut gefüllter Werkzeugkasten

Um unsere Hunde möglichst gesund zu erhalten, müssen wir neben den schon lange bekannten Zuchtstrategien, Voruntersuchungen u.ä. auch auf die Heterozygothie achten. Heute wissen wir, dass die Genvielfalt mit einer Werkzeugkiste verglichen werden kann. Mit der großen Anzahl verschiedener Gene und Genvarianten hat ein Organismus mehr Möglichkeiten auf Umweltgefahren effektiver zu reagieren, weil eine größere Auswahl vorhanden ist. Je mehr unterschiedliche Gene, desto mehr Werkzeuge, die dann eventuell spezifischer wirken können. Man kann einen Nagel vielleicht auch mit dem Griff eines Schraubendrehers in das Holz bekommen, wenn kein Hammer vorhanden ist. Der Hammer ist aber auf jeden Fall das effektivste Werkzeug für diese Arbeit. Die Auswahl macht’s. Wir haben die Aufgabe, unseren gezüchteten Hunden eine gut gefüllte Werkzeugkiste zu erhalten.

In Zukunft sollten wir unsere Auslesekriterien wie Gesundheit, Wesen, sportliche Fähigkeiten und vorzügliche Standardeigenschaften ergänzen, nämlich um die Genvielfalt.

QUELLE: RASSEHUNDEZUCHT – GENETIK FÜR ZÜCHTER UND HALTER VON IRENE SOMMERFELD-STUR.

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